
Werbung, da Rezensionsexemplar. Die Punk-Literatin Virginie Despentes hat im letzten Herbst erneut einen Bestseller in Frankreich veröffentlicht. „Cher Connard“ (zu Deutsch „Liebes Arschloch“) ist ein moderner Briefroman mit einem Despentes-typischen Titel, der mindestens genauso reinknallt, wie „Baise-Moi“.
Despentes ist für ihre Radikalität, ihre Wut und ihre unbequemen Themen und Figuren bekannt. In „Liebes Arschloch“ findest du all das auf über 300 Seiten wieder.
Vorhang auf für Oscar, ein erfolgreicher Schriftsteller, der seit einem MeToo-Shitstorm in Selbstmitleid vergeht („Niemand hat an die Frauen gedacht. Wir hatten Schiss vor dem Fiskus, den Rechtsextremen, den Schwarzen, den Juden, vor Twitter. Aber vor den Frauen! Wir haben die Gefahr nicht gesehen.“ S. 87) ; Rebecca, eine berühmte Schauspielerin in ihren 50ern, die gegen den Zahn der Zeit und eine Drogensucht zu kämpfen hat („Mir gefällt die Kritik am Patriarchat, weil ich alt bin.“ S. 92 ) und Zoe, eine Feministin und Social Media-Aktivistin, die das Opfer im besagten MeToo-Fall war („Die Weiblichkeit ist ein Gefängnis, und wir kriegen lebenslänglich.“ S. 318). Diese drei Figuren treffen digital aufeinander und es entsteht ein zum Teil höchstanstrengender aber auch zeitgleich sehr unterhaltsamer Briefroman.
Sind wir mal ehrlich, der Cast ist ätzend. Alle drei Personen gehen dir mit ihren Neurosen zeilenweise auf den Keks, bringen dich zur Weißglut und im Anschluss daran wieder zum Schmunzeln. Man fühlt irgendwie alles auf einmal, Hass, Wut, Empathie, Mitleid und Verständnis, Schwesternschaft und am Ende weißt du nicht mehr, welche der drei Personen du eigentlich am wenigsten schlimm fandest (auf jeden Fall nicht Oscar…). Ich steh auf Despentes ungemütliches Figurenkabinett, das hat mich bei der Subutex-Reihe schon sehr bespaßt.
Despentes schreibt aus der Opfer-Perspektive, aber auch aus der Täter-Perspektive über zentrale Themen der Gegenwart: toxische Männlichkeit, Feminismus, die Klassenfrage und sozialer Aufstieg, Cyper-Mobbing, Einsamkeit, das Altern und verharmlosender Drogenkonsum. Vor allem das Schreiben aus männlichen Sicht gelingt der französischen Autorin sehr authentisch und lebendig.
In irgendeiner Art und Weise findet sich jeder in Despentes Büchern wieder, die wenigsten von uns würden es aber vermutlich offen zugeben. Ich bleib dabei – Ich bin Fan!
„Liebes Arschloch“ eignet sich auch hervorragend für Diskussionen, perfekt für Literaturkreise oder Buchclubs (siehe auch „Das Literarische Quartett“ oder der „SRF-Literaturclub“).
Vielen Dank an Kiwi für das Rezensionsexemplar. Übersetzt aus dem Französischen von Ina Kronenberger, Tatjana Michaelis.
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
Erscheinungstermin: 09.02.2023
336 Seiten
ISBN: 978-3-462-00499-1
Ein Gedanke zu “Ein Briefroman am Puls der Zeit – Liebes Arschloch von Virginie Despentes”